10/11/2024 0 Kommentare
„Ein Krieg gegen die Menschlichkeit“ – Ein Interview, das weiterhin aufrüttelt
„Ein Krieg gegen die Menschlichkeit“ – Ein Interview, das weiterhin aufrüttelt
# Evangelisches Leben
„Ein Krieg gegen die Menschlichkeit“ – Ein Interview, das weiterhin aufrüttelt
Auch heute, im Jahr 2024, ist das Interview mit Bischof Dietrich Brauer von erschreckender Aktualität. Bischof Brauer, ein bedeutender Vertreter der lutherischen Kirche in Russland, sprach 2022 mit Magdalena Smetana über die Schrecken des Krieges in der Ukraine und die Herausforderungen, vor denen die Kirchen in dieser Zeit stehen. Seit 2011 Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche Europäisches Russland und seit 2014 Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, sah sich Brauer gezwungen, Russland mit seiner Familie zu verlassen und nach Deutschland zu fliehen. Seine Worte im Interview sind eine eindringliche Mahnung, die auch heute noch Relevanz besitzt und zum Nachdenken anregt – über die Folgen des Krieges und die Verantwortung der Kirche in Krisenzeiten.
Als wir kurz nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs miteinander per Zoom gesprochen haben, sagten Sie: „Jetzt ist die Grenze überschritten, jetzt kann ich nicht mehr schweigen.“ Was genau war der Moment, der Sie zum Umdenken brachte?
Dietrich Brauer: Am 24. Februar um 6 Uhr bin ich in einer neuen Welt aufgewacht. Zwei Tage vorher wären wir noch bereit gewesen, Gespräche zu führen und uns anzupassen oder uns neu zu orientieren. Aber an diesem Morgen habe ich gespürt: das geht nicht mehr. Ich hoffte, dass es ein Fake ist. Aber dann nahm ich mit den Kollegen in der Ukraine und Geschwistern in den Partnerkirchen Kontakt auf und es war klar: Jetzt gibt es kein ABER mehr.
Welches ABER meinen Sie?
Dietrich Brauer: Unsere Kirche hat immer wieder nach Lösungen gesucht. Ich in meiner Position habe versucht, Brücken zu bauen, zu vermitteln und Verständnis für beide Seiten aufzubringen. Ich war vorsichtig, auch als die Krim Russland angeschlossen wurde und gegenüber den Geschehnissen in Donbas. Auch da haben wir auf Dialog gesetzt und gemeinsam überlegt, wie wir die Gemeinden unterstützen können.
Jetzt war aber die Grenze erreicht.
Dietrich Brauer: Ja, es kam noch schlimmer. Das ist unvorstellbar. Wir durften nicht vom Krieg sprechen, nicht für den Frieden beten und keinen Kontakt zu unseren Ukrainischen Geschwistern aufnehmen.
Sie haben am Sonntag nach dem Ausbruch des Krieges im Gottesdienst klare Worte gefunden. Wie waren die Reaktionen?
Dietrich Brauer: Ich habe befürchtet, Menschen würden es entweder nicht glauben, oder klein reden oder die Schuld bei beiden Parteien suchen. Aber ich war positiv überrascht, wie gut die Predigt ankam. Ich war nicht politisch, aber ich war klar. Ich sprach vom Krieg und vom Gefühl der Ohnmacht, das viele gespürt, aber keine Worte dafür hatten. Es ist wie ein enger Raum, aus dem kein Entkommen ist. Viele weinten, sprachen über ihre Ängste und es war eine große Dankbarkeit da.
Wie ging es weiter?
Dietrich Brauer: Es gab eine klare Forderung des Präsidialamtes an alle religiösen Leader, sich zu äußern und den Krieg zu unterstützen. Die meisten haben es getan. Der katholische Kollege beruft sich auf Vatikan und schweigt, der jüdische Oberrabbiner, der aber auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, fand kluge Worte. Er rief alle dazu auf, sich für den Frieden einzusetzen. Dem hätten wir uns anschließen können. Ich wollte eine gemeinsame Erklärung mit allen Religionsgemeinschaften verfassen, aber dem haben sich die anderen nicht angeschlossen. Gemeinsam hätten wir etwas bewegen können.
Sie wurden 2015 als Mitglied in den "Rat für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen" beim Präsidenten der Russischen Föderation berufen.
Dietrich Brauer: Dort sind alle traditionellen Religionsgemeinschaften vertreten. Unsere lutherische Kirche war lange Jahre nicht vertreten, weil es bisher nur deutsche Bischöfe gegeben hat. Diese wurden in den Rat nicht berufen. Deshalb war es ein Fortschritt. Wir konnten unsere Anliegen vorbringen, uns vernetzen und auch Brücken bauen. Für mich war es auch die Möglichkeit, direkt mit den Verantwortlichen zu kommunizieren.
Sie haben damals gesagt, es sei ein positives Zeichen und eine gesellschaftliche Anerkennung einer kleinen Minderheitskirche. Aus heutiger Sicht: Wie ernst waren die Schritte der orthodoxen Mehrheitskirche und des Staates auf die lutherische Kirche zu?
Dietrich Brauer: Das werden wir wohl erst im Rückblick beurteilen können. Staatlicherseits sind in dem Rat keine Theologen. Dennoch hofften wir auf Annäherung. Ich bin auf die Menschen zugegangen, habe Kontakte geknüpft, Projekte durchgeführt. Wir konnten z.B. im Jahr 2020 eine Kopie der Stalingradmadonna von Berlin nach Moskau überführen, wo sie jetzt in der Peter und Paul Kathedrale ihren festen Ort hat. Das haben wir diesen Kontakten zu verdanken.
Auch die Moskauer Kathedrale konnte nach drei Anläufen in den Besitz der Kirche rückübertragen werden. Welche Hoffnungen haben Sie selbst mit diesem Schritt verbunden?
Dietrich Brauer: Das ist auch so ein Beispiel. Wir hatten nur ein Nutzungsrecht, obwohl die Kirche eigentlich in unserem Besitz war. Der Staat war der Inhaber. Wir waren verschiedensten Schikanen ausgesetzt und es drohte jederzeit Vertragsabbruch. Es war eine totale Abhängigkeit. Ich nahm das Reformationsjubiläum als Anlass, um diesen Prozess zu beschleunigen. Dafür waren die Kontakte wichtig. Und es hat die Verantwortlichen beeindruckt, dass der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tatsächlich teilgenommen hat. Beim Festakt sprach er darüber, dass diese Kathedrale ein Begegnungsort für alle Konfessionen werden kann.
In der westlichen Presse lesen wir über die Stellungnahme des Patriarchen
Kyrill I. zum Krieg. Gibt es noch Möglichkeiten, Einfluss auf ihn auszuüben?
Dietrich Brauer: Das ist schwer zu sagen. Wir hörten seitens der Kirche seit Jahren ein Narrativ über Christenverfolgung und Völkermord in der Ukraine. Deshalb ist sein Handeln eine logische Konsequenz. Auch die Predigten, die wir hören, sind konsequent. Aber viele Menschen haben doch von ihm etwas erwartet.
Wie sehen Sie im Moment die Rolle der Orthodoxen Kirche im Allgemeinen. Besteht die Möglichkeit, dass sich ein Protest von unten aufbaut?
Dietrich Brauer: Manche Bischöfe äußern sich, aber viele Priester und Gläubige haben Angst. Dazu kommt noch die innere Zerrissenheit. Russen und Ukrainer, verschiedene Konfessionen haben friedlich miteinander gelebt. Aber jetzt? Wenn sie die Toten sehen und Panzer. Was sollen sie denken?
Sie sind Bischof der ELKER und Erzbischof der ELKR und tragen Verantwortung für 170 Kirchengemeinden und 50 Pfarrerinnen und Pfarrer und viele Gemeindeglieder. Wie geht es ihnen?
Dietrich Brauer: Wir haben in jeder Kirche der ELKRAS jeweils einen Bischof, der zuständig ist. Aber wir leben in einer engen Kirchengemeinschaft, sind vertraglich verbunden. Schwer zu sagen, wieviele Menschen überhaupt bleiben. Die Kirche ist in Gefahr. Unsere Geschichte ist leidvoll – früher waren wir als Deutsche stigmatisiert, selbst ich, obwohl ich schon in der dritten Generation unter Repressalien lebe und nur den russischen Pass besitze. Wir haben immer gehofft, dass diese Zeit nicht mehr wiederkommt. Jetzt müssen wir wieder von vorne anfangen.
Kann es gelingen, dass die Kirche über die Grenze hinweg zur Versöhnung beitragen kann?
Dietrich Brauer: Ich hoffe es sehr. Die Situation ist anders als 2014. Jetzt gibt es einen größeren Zusammenhalt, und die Menschen sagen, es darf uns kein Hass beherrschen. Jetzt ist Zeit zum Handeln und zum Helfen und nicht die Zeit zum Anschuldigen. Dafür bin ich dankbar.
Was können wir als Kirche, als GAW, als Christinnen und Christen im Ausland für die Glaubensgeschwister in Russland tun?
Dietrich Brauer: Eine gute Frage. Aber ich habe keine Antwort. Ich versuche, verschiedene Szenarien zu überlegen. Sollte es noch schlimmer kommen, sollte ein größerer Krieg ausbrechen, müssen wir versuchen, Menschen zu evakuieren. Andere Möglichkeit ist, dass alles noch länger dauert, und das bedeutet, wir können keine Pläne machen. Mit meinen Konsistorien besprechen wir gerade, wie es weiter geht, wie das Leben vor Ort aufrechterhalten werden kann. Wie es aber in zwei Monaten aussehen wird, kann niemand sagen. Meine Hoffnung ist, dass sich die Situation entschärft. Auch das wäre möglich.
Was sind Ihre langfristigen Pläne? Können Sie nach Russland zurückkehren?
Dietrich Brauer: Im Moment nicht. Leider gibt es jetzt mehr Fragen als Antworten. Ich distanziere mich klar und öffentlich von diesem Krieg, der nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine ist, sondern ein Krieg gegen die Menschlichkeit. Er wird nicht in unserem Namen geführt.
Sie werden am Freitag im Berliner Dom beim Friedensgebet und am Sonntag beim ZDF-Gottesdienst mitwirken. Was ist Ihre Botschaft?
Dietrich Brauer: Es ist eine Friedensbotschaft. Ich wünsche uns einen gerechten Frieden, den wir ernst meinen. In unseren Gottesdiensten kommt das Wort Frieden sehr oft vor. Dieser Frieden wird konkret im Leiden Christi. In der Einsamkeit und Unwissenheit, was die Zukunft bringt. In dem Kelch, den wir trinken müssen, damit ein Neuanfang möglich ist. Die Nähe Gottes wird spürbar bei den Menschen, die für Frieden beten mit den Menschen vor Augen – den weinenden Neugeborenen in den Bunkern, den jungen Soldaten, die sich an der Front befinden und den Müttern, die die Todesnachrichten bekommen. Für dieses Leid haben wir keine Worte. Das ist Passionsgeschichte. Aber auch in dieser Hölle ist eine Hoffnung auf Frieden.
Was trägt Sie in dieser Zeit, was gibt Ihnen Kraft?
Dietrich Brauer: Meine Familie, Freundinnen und Freunde und unsere Partner hier vor Ort. Aber auch die Menschen in Russland, die mutig weiter machen. Eine große Quelle sind die Herrnhuter Losungen, die ich täglich lese. Ich staune, wie das Wort Gottes in der aktuellen Situation zu uns spricht. Das bewegt mich sehr.
Info:
- Dietrich Brauer, geboren in Wladiwostok, zog als Kind nach Moskau, studierte Theologie in Nowosaratowka und wurde 2011 Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche Europäisches Russland und 2014 Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland; 2022 floh er nach Deutschland und dient seitdem als Pfarrer in Ulm-Söflingen. Sein Nachfolger als Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien ist seit 2022 Andrei Dschamgarow.
- Das Gespräch führte Magdalena Smetana
- Veröffentlicht hat das Interview 2022 die evangelische Landeskirche in Württemberg. Hier geht es zum Artikel.
Kommentare