Kommentar: Aufarbeitung von Missbrauch ist oberste Pflicht!

Kommentar: Aufarbeitung von Missbrauch ist oberste Pflicht!

Kommentar: Aufarbeitung von Missbrauch ist oberste Pflicht!

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Kommentar: Aufarbeitung von Missbrauch ist oberste Pflicht!

Die evangelischen Kirchen in Deutschland zeigen gerade vor, wie man Missbrauch in der eigenen Kirche umfassend thematisiert. Ende 2020 nahm der Forschungsverbund ForuM im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine unabhängigen Studie zum Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche seine Arbeit auf. Nach drei Jahren wurden die Ergebnisse am 25.01.2024 veröffentlicht. Ich war vom Ausmaß der Zahlen ehrlich gesagt geschockt. Dennoch: Die Aufarbeitung ist wichtig, richtig und gut!

Vorbildfunktion Kirche

Kirche hat eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft. Durch missbräuchliches Verhalten wird die Vorbildwirkung und der Ruf der Kirchen nachhaltig geschädigt. Die Folge sind zahlreiche Kirchenaustritte und ein moralisches Dilemma. Viel schlimmer aber sind die Folgen für die Menschen, die von Missbrauch betroffen sind! Ihnen wird zu wenig unter die Arme gegriffen. Die Aufarbeitung dieser Vorfälle  auf institutioneller Ebene erfolgt zudem oft nur zögerlich.

Dennoch: Die EKD unternimmt etwas dagegen und thematisiert den Missbrauch in der eigenen Kirche umfassend, bezieht in der Studie neben Pfarrerinnen und Pfarrer auch alle anderen kirchlichen Mitarbeiter samt Ehrenamtlichen ein und bleibt nicht nur bei der Institution Kirche stehen, sondern untersucht auch die diakonischen Einrichtungen, von denen es in Deutschland zahlreiche gibt, wie etwa evangelische Schulen, Kindergärten und so weiter. Welche Organisationen leisten ähnliche Arbeit auf staatlicher oder kirchlicher Ebene? Ich denke, dass die evangelische Kirche hier mit einem positiven Beispiel vorangeht!

Missbrauch ist gesellschaftlich allgegenwärtig

Keine Institution, keine Organisation ist davor gefeit, Ort eines Missbrauchs zu sein. Leider! Es gibt aber sehr probate Mittel, um missbräuchliches Verhalten einzudämmen: 

  • Übergriffe finden oft dort statt, wo ungleiche Machtgefüge vorhanden sind. Wenn Autorität nicht hinterfragt werden darf, wird die Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs noch höher. Daher ist es eine pädagogische Devise, Menschen zu bestärken, Autorität kritisch zu hinterfragen!
  • Prävention: Durch Aufklärungskampagnen und Schulungen können Menschen sensibilisiert werden, um potenzielle Täter frühzeitig zu erkennen und um Betroffene zu unterstützen.
  • Schutzkonzepte: Soziale Institutionen wie Schulen, Kirchen, Krankenhäuser etc.  brauchen klare Schutzkonzepte.
  • Es ist wichtig, dass Institutionen angemessen auf Missbrauchsfälle reagieren, indem sie Opfern Unterstützung anbieten, Vorwürfe ernst nehmen und umfassende Untersuchungen durchführen.
  • Institutionen sollten transparent sein und Verantwortung für etwaige Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen übernehmen.
  • Die Aufarbeitung hilft, Missbrauch künftig noch besser und frühzeitiger zu erkennen.

Die Zeiten sind vorbei, in denen Lehrpersonen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Polizisten, Bürgermeister oder andere Autoritätspersonen ungeprüft und intransparent handeln konnten. Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Allerdings fehlt in der Studie eine entscheidende Information: Wie hoch ist der Anteil der Betroffenen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kirchenmitglieder? Ist der Missbrauch in den Institutionen der evangelischen Kirche Deutschlands im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Missbrauch über- oder unterdurchschnittlich? Zwischen 1946 und 2020 wurden laut der Studie über 9.000 Kinder und Jugendliche in der evangelischen Kirche und Diakonie sexuell missbraucht. Das Problem an der ForuM-Studie ist, dass die Forscher auf Hochrechnungen zurückgreifen mussten. Sie identifizierten mindestens 1.259 Beschuldigte, darunter 511 Pfarrpersonen, und 2.225 Betroffene, deren Schicksal belegbar ist. Ist es angemessen, die Verhältnissetzung zur Gesamtgesellschaft als Verharmlosung anzusehen oder ist es berechtigt, diese Frage zu stellen? 

Aktennotizen

Die Forschungsmethodik umfasst fünf Teilprojekte und eine Metastudie, die sich über drei Jahre erstreckte und auf Aktenanalysen, Interviews und Analyse der öffentlichen Kommunikation basiert. Die Datenlage war unzureichend, da Missbrauchsfälle ungenügend dokumentiert wurden und einige Landeskirchen keine ausreichende Zusammenarbeit boten. Umso wichtiger ist es, dass Menschen im kirchlichen Bereich Berichte und Akten ernst nehmen.

Schamvoll ist der Umgang mit Betroffenen seitens der Kirchen in der Vergangenheit! Dieser war oft unsensibel, ihre Anzeigen wurden angezweifelt, und sie wurden mit Forderungen nach Vergebung konfrontiert. Neben Machtmissbrauch stellt letzteres einen theologischen Missbrauch dar: Menschen in die Vergebung zu zwingen ist ein Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums! Schließlich sagt Jesus: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8, 32)

Fazit

Die Beschuldigten waren größtenteils männlich, verheiratet und im Durchschnitt 39,6 Jahre alt. Viele von ihnen waren Mehrfachtäter, und gegen die meisten Pfarrer wurden Disziplinarverfahren oder Anzeigen eingeleitet. Die Studie kritisiert auch, dass die Aufarbeitung von Missbrauch erst spät begonnen hat und dass die Kirche das Problem lange Zeit verharmlost hat. Sie empfiehlt unabhängige Ansprechstellen für Betroffene, eine externe Ombudsstelle und eine umfassende Aktendokumentation für eine transparente Aufarbeitung.

Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben einen klaren Arbeitsauftrag erhalten. Dies sollte auch in Österreich umgesetzt werden! Schutzkonzepte, wie sie in der evangelischen Jugend vorhanden sind, müssen dringend auf alle Institutionen unserer Kirche ausgeweitet werden. Eine ähnliche Studie in Österreich wäre ratsam, jedoch bräuchte es dafür dringend staatliche Unterstützungsmaßnahmen, da sich die evangelische Kirche in Österreich solch umfangreiche Studien nicht leisten kann. Generell sollte die Aufarbeitung von Missbrauch nicht nur in Kirchen, sondern in allen Bereichen stattfinden, etwa in staatlichen Schulen, Kindergärten und Universitäten. Wenn man die Aufarbeitung als Problemlösung betrachtet, ist es im Interesse aller, bei Missbrauch keine blinden Flecken zuzulassen!

Links

Bericht SonntagsblattForuM-Studie. Bericht im Deutschlandfunk.

Sind Sie Betroffene/r von sexuellen Missbrauch, dann finden Sie hier unabhängige Institutionen, die ihnen weiterhelfen. Eine wichtige Kinderschutzorganisation ist der Verein Möwe.

Kirchliche Schutzkonzepte: Diakonie Österreich, Evangelische Jugend, Gewaltschutzrichtlinie der Evangelischen Kirchen in Österreich.

Wollen Sie einen Missbrauchsfall in unserer Kirche melden, so wenden Sie sich bitte an die Gleichstellungskommission.

Text: Pfarrer Thomas Müller

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