08/08/2024 0 Kommentare
Das Ende der Kirche?
Das Ende der Kirche?
# Neuigkeiten
Das Ende der Kirche?
Interview mit Marcus Hütter
Die Fragen stellte Alice Samec
Seit Jahrzehnten verliert die evangelische Kirche Mitglieder und wird stetig kleiner. Ist die Kirche nicht mehr relevant für die Menschen, verschwindet sie zusehends in der Bedeutungslosigkeit?
MH: Das würde ich so nicht sagen. Kirche wird für Menschen immer wieder bedeutsam sein, z.B. in der Seelsorge. Aber wir leben in einer freien, pluralistischen Gesellschaft. Die Bindung an große Institutionen lässt nach. Die Kirche hat in religiösen, existenziellen Fragen keine Monopolstellung mehr – sie ist eine von vielen Optionen, für die sich Menschen entscheiden können. Die Frage ist, wie wir damit umgehen wollen. Veränderung bietet auch Chancen. Durch die Vielzahl an Vereinen, Gemeinschaften, Initiativen – zivilgesellschaftlichen Akteuren – sind Kirchen gefordert, in Dialog zu treten und Partner:innen zu finden, um gemeinsam Kirche mit und für andere zu sein. Das heißt, man ist sich selbst nicht mehr genug, sondern geht aufeinander zu. Diese Offenheit, dieses Heraustreten, Aufsuchen und „in Beziehung Leben“ entspricht meines Erachtens dem christlichen Glauben. So kommt man in Kontakt mit Menschen außerhalb der Kirche, kann mit dem eigenen Tun, der eigenen Botschaft relevant werden bzw. bleiben. Die Zeit, in der wir darauf warten, dass Menschen von selbst in die Kirche finden oder selbstverständlich kommen, ist vorbei.
Gibt es dafür gute Beispiele?
MH: Zuhauf! Kirchen leben schon immer in vielfältigen Beziehungen mit Menschen auch außerhalb des Gottesdienstes. Diese Berührungspunkte wahrzunehmen und bewusst zu gestalten, ist entscheidend. Im Gemeinsamen, ob mit anderen Kirchen (ökumenisch), interreligiös oder mit zivilgesellschaftlichen Partner:innen, kann man sich als wirksam und relevant erleben. Zudem werden so Beziehungen gelebt und gestärkt.
Welche konkreten Schritte wären angesichts des Mitgliederschwundes und sinkender Finanzmittel nötig?
Marcus Hütter: Es wäre nötig, Mitgliedschaft und Finanzierung nicht derart eng zu verbinden. Derzeit haben wir ein einziges Modell: Wer dabei ist, zahlt Kirchenbeitrag, wer diesen nicht mehr zahlen kann oder will, muss austreten. Das ist dann ein klarer Schlussstrich. In Deutschland werden derzeit unterschiedliche Modelle überlegt: Mitgliedschaft auf Probe, Symphatisant:innen mit projektbezogener finanzieller Beteiligung und vollzahlende Mitglieder.
Gibt es solche Formen bereits? Und wie kann stattdessen die Finanzierung gesichert werden?
MH: Solche Modelle gibt es bereits in evangelisch-methodistischen Kirchen. Zusätzlich müssen wir neue Finanzierungsmöglichkeiten ersinnen; Fundraising und staatliche bzw. EU-Subventionen für Non-Profit-Organisationen müssten viel selbstverständlicher werden, als nur die sinkenden Einnahmen aus den Kirchenbeitragen zu beäugen. Wir müssen uns fragen, ob das jetzige Mitgliedschafts- und Finanzierungsmodell den veränderten Logiken und Dynamiken unserer Gesellschaft noch entspricht.
Sinkende Zahlen, sinkender Mut – was könnte das immer stärker wackelnde Selbstbild kräftigen?
MH: Voraussetzung für alles Weitere ist die Arbeit am Selbstbild und dem daraus entspringenden Tun: Wenn wir von der Evangelischen Kirche als Diaspora (Anm.: „Zerstreuung“) sprechen, so meint das zumeist nur: Die Kirche ist eine (schrumpfende) Minderheit. Das ist für das Selbstbewusstsein fatal. Minderheitskirche drückt ein Zahlenverhältnis aus. Da ist etwas klein, wird weniger. Ich glaube nicht, dass das dem Ersinnen mutiger, neuer Möglichkeiten dient. Ich votiere dafür, den Begriff Diasporakirche vom Griechischen her als „die von Gott zu den Menschen und in die Welt eingestreute Kirche“ zu verstehen.
Marcus Hütter (35) ist Pfarrer der Heilandskirche Graz mit Schwerpunkt Tochtergemeinde Liebenau. Davor war er bei der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) tätig. Das von ihm für die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verfasste Magazin „Beziehungsreichtum. Die Diaspora der Kirche als gemeinsame Aufgabe“ kann auf der Homepage der GEKE bestellt oder kostenlos heruntergeladen werden:
Kommentare